Entwicklungsstörungen - Beispiel Sprachentwicklung
Dienstag, den 09. Juni 2009 um 09:49 Uhr
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Beispiel SprachentwicklungMädchen lernen im Schnitt früher sprechen als Jungs. Entgegen landläufiger Meinung lernen erstgeborene Kinder schneller sprechen als die folgenden Geschwister. Dies könnte mit der bei »Erstlingen« oft intensiveren Eltern-Kind-Kommunikation zusammenhängen. Und für die Theorie, dass manche Kinder aus »Faulheit« spät zu sprechen begännen – etwa weil Eltern (oder Geschwister) sie »auch ohne Worte verstehen« – gibt es übrigens keine Beweise. Fakt ist aber, die sprachliche Entwicklung zeigt eine ungeheuere Bandbreite: Das erste (sinnvolle) Wort wird normalerweise mit 9 bis 18 Monaten gesprochen. Ein normales zweijähriges Kind kann über einen Wortschatz von wenigen Worten, aber auch schon über einen von 2 000 Worten verfügen! Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass sich die Sorgen von Einsteins Eltern auf einen bestimmten Aspekt der Sprache bezogen: das so genannte expressive (= aktive) Sprachvermögen, d. h. das Vermögen, sinnvolle Worte zu sagen. Es kann gut sein, dass Einstein zu diesem Zeitpunkt schon viele tausend Gegenstände, deren Namen ihm genannt wurden, in einem Bilderbuch hätte zeigen können, d. h. dass er über ein normales rezeptives (= erkennendes, passives) Sprachvermögen verfügte. In der Regel lässt sich, wie in Einsteins Fall auch, keine Ursache für einen verzögerten Spracherwerb feststellen – falls das rezeptive Sprachvermögen normal entwickelt ist. Ist es das nicht oder sind auch andere Entwicklungsbereiche verzögert, so weist der verlangsamte Spracherwerb dagegen oft auf tiefer liegende Probleme hin, etwa eine geistige Behinderung, Autismus (LINK) oder eine Zerebralparese. In jedem Fall einer verzögerten Sprachentwicklung sollte eine Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden. Ein Besuch beim Kinderarzt ist anzuraten:
Ob eine logopädische Therapie (= Sprach- und Sprechtherapie) sinnvoll ist, hängt vom Einzelfall ab. Sie beeinflusst das passive Sprachvermögen nicht, und die mit einigem Aufwand zu erzielende Beschleunigung der aktiven Sprachentwicklung steht nicht in jedem Fall im Verhältnis zum Einsatz. Gute Logopäden können im Einzelfall erkennen, wo sich eine gezielte Förderung »lohnt« und wo nicht. SprechstörungenVom Sprachvermögen ist das Sprechvermögen abzugrenzen, also die Fähigkeit, Worte richtig auszusprechen. Auch beim Sprechvermögen werden Frühstarts, Spätstarts und Hochstarts beobachtet – am häufigsten ist der entwicklungsbedingte Sigmatismus (»Lispeln«), der für Drei- und Vierjährige fast schon normal ist, aber dann eben meist von selbst vorübergeht. Generell sollten Sprechstörungen nicht zu einem großen »Thema« gemacht werden, ab dem vierten Geburtstag (bei großem Leidensdruck des Kindes auch früher) aber mit einem Logopäden besprochen werden, der meist zu einer Behandlung noch vor der Einschulung rät. Der Rat »einfach zuzuwarten« gilt zumindest anfänglich auch für das Stottern, das bei 10 % der zwei- bis vierjährigen Kindern, vor allem Jungs, vorübergehend auftritt. Wird das Stottern aber mit vier Jahren nicht besser oder leidet das Kind darunter, so sollten Sie einen erfahrenen Logopäden zu Rate ziehen, der Ihrem Kind mit modernen Ãœbungsprogrammen helfen kann. Stottern ist übrigens weder eine »falsche Angewohnheit«, noch entsteht es durch »psychische Belastungen« oder Familienkonflikte, wie früher vermutet wurde, sondern ist stark anlagebedingt. Die Forschung hat sich in diesem Gebiet rasch weiterentwickelt, so dass viele ältere Bücher mit Vorsicht zu genießen sind. Klingt die Sprache insgesamt »verwaschen« oder ist sie immer laut und monoton, so muss durch einen Hörtest eine Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden. Bei ausgeprägten Sprechstörungen sollte immer auch ein Pädaudiologe (ein auf kindliche Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen spezialisierter Arzt) konsultiert werden.
Aktualisiert ( Mittwoch, den 26. August 2009 um 17:07 Uhr )
© Herbert Renz-Polster et. al.: Gesundheit für Kinder, 2. Auflage 2006, Kösel Verlag München |